Mönchengladbach. Wegen eines Messer-Angriffs in einer Viersener Unterkunft wurde Yousef S. am Freitag vom Landgericht zu zwei Jahren und zehn Monaten Haft verurteilt. Nachdem er das Gericht lange Zeit genarrt hatte, gab der algerische Asylbewerber in letzter Minute zu, bereits 23 Jahre alt zu sein. Da sein Opfer ausreisepflichtig und nicht mehr auffindbar war, konnte seine Darstellung, er sei nach seinem „Blutrausch“ wieder von der Tat zurückgetreten, nicht widerlegt werden.
Lange Zeit zeigte die Öffentlichkeit kein Interesse an dem am 25. Januar begonnenen Prozess gegen Yousef S. Dem algerischen Asylbewerber wurde versuchter Mord vorgeworfen, weil er am 28. Juli 2018 in einer Flüchtlingsunterkunft in Viersen mit einem Messer auf einen schlafenden Mitbewohner eingestochen hatte.
Am Freitag aber fanden acht Schüler der „Rechtskunde AG“ des Clara-Schumann-Gymnasiums in Viersen den Weg in den größten Sitzungssaal des Mönchengladbacher Landgerichts. Begleitet wurden die interessierten Schüler von einem Anwalt, der ihnen fachkundige Erläuterungen gab. Und die Schüler erlebten sofort jene Posse, die diesen Prozess von Beginn an überschattet hatte: „Es geht nach wie vor um die Frage: Wer ist der Angeklagte?“, ging Lothar Beckers sofort in medias res.
Pass ins Mittelmeer gefallen?
Damit spielte der Kammervorsitzende darauf an, dass der Prozess gegen Yousef S. seit seinem Beginn von bizarren und zumeist widersprüchlichen Angaben zu dessen Asylanträgen, seinem Namen sowie seinem Alter überlagert war. So behauptete der algerische Asylbewerber etwa, zuerst einen Asylantrag unter seinem richtigen Namen, danach einen zweiten unter einem falschen Namen gestellt zu haben. Sein Pass sei bei der Überfahrt über das Mittelmeer ins Wasser gefallen, lautete eine seiner Darstellungen.
Außerdem habe er sich bei seinem Asylantrag älter gemacht, um mehr Geld zu bekommen, schilderte er zu Prozessbeginn. Wenige Wochen vor Prozessbeginn hatte er jedoch in einem Brief aus der Haft plötzlich ein anderes Alter angegeben, mit dem er noch knapp in das Heranwachsendenstrafrecht gefallen wäre. Zuletzt hatte Yousef S. dem Gericht die Kopie eines angeblichen algerischen Personalausweis vorgelegt. Eine ganze Reihe von Merkwürdigkeiten riefen jedoch sofortige Zweifel an dem Dokument hervor.
„Identität des Angeklagten derzeit nicht beurteilbar“
„Es gibt Dokumente, die seltsam aussehen“, knüpfte Lothar Beckers am frühen Freitagvormittag daran an. Daraufhin schlug Gerd Meister, der Verteidiger von Yousef S., ein Rechtsgespräch vor. „Ich bin zu ziemlich vielen Schandtaten bereit“, sagte Meister. „Nehmen wir das doch ins Protokoll auf“, entgegnete Lothar Beckers scherzhaft. Da die „Identität des Angeklagten derzeit nicht beurteilbar“ sei, ließ sich der Vorsitzende der 7. Großen Strafkammer auf das Gespräch ein. Die Öffentlichkeit wurde davon jedoch ausgeschlossen, womit Zuschauer und Journalisten den Saal verlassen mussten.
Nachdem die Öffentlichkeit wieder zugelassen wurde, betonte Lothar Beckers, dass es keine Verständigung zwischen den Beteiligten gegeben habe. Yousef S. war aber plötzlich bereit zuzugeben, dass er bereits im September 1995 und nicht erst zwei Jahre später geboren wurde. Auch sei Yousef S. sein tatsächlicher Name. Außerdem gab er zu, sein Opfer mit einem Messer „erheblich verletzt“ zu haben. Nach diesem „Blutrausch“ habe er jedoch aufgehört, auf seinen Mitbewohner einzustechen.
Keine Vernehmung, weil das Opfer untergetaucht war
Da sein Opfer sowie andere Mitbewohner, die seine Messer-Attacke miterlebt hatten, vollziehbar ausreisepflichtig sind, vermutlich deswegen abgetaucht waren und damit vor Gericht nicht vernommen werden konnten, blieb Oberstaatsanwältin Carola Guddat nichts anderes mehr übrig, als die Mordanklage in ihrem Plädoyer wieder zurückzunehmen. „Ich kann nicht zweifelsfrei ausschließen, dass der Angeklagte von der Tat zurückgetreten ist“, sagte sie zur Begründung.
„Es sind erhebliche Zweifel geblieben, ob der Angeklagte derjenige ist, der er vorgibt zu sein“, fuhr die Oberstaatsanwältin fort. „Und es ist ja auch nicht gerade wenig, was da an Vorbelastungen gegen ihn spricht.“ Damit spielte sie darauf an, dass Yousef S., der im Dezember 2015 nach Deutschland gekommen war, bereits vier Mal strafrechtlich auffällig war, davon zwei Mal wegen versuchtem Diebstahl mit Waffen. Am Ende ihres Plädoyers forderte Carola Guddat eine Haftstrafe von drei Jahren wegen gefährlicher Körperverletzung. Gerd Meister plädierte auf eine Freiheitsstrafe, die zwei Jahre und sechs Monate nicht übersteigt.
Messer deutete auf Tötungsvorsatz
Nach einer kurzen Beratung verkündete Lothar Beckers eine Haftstrafe von zwei Jahren und zehn Monaten wegen gefährlicher Körperverletzung. In seiner Urteilsbegründung führte der Kammervorsitzende aus, dass das von Yousef S. bei seiner Tat benutzte Ausbeinmesser auf einen Tötungsvorsatz deute. „Ob er den tatsächlich hatte, können wir aber offen lassen.“
Danach erinnerte Lothar Beckers erneut an die Posse, die Yousef S. zu seinem Namen und seinem Alter geboten hatte: „Normalerweise weiß man in der Hauptverhandlung, mit wem man es zu tun hat.“ Und zum Ende der Urteilsbegründung ließ der Kammervorsitzende ein letztes Mal Zweifel an der Echtheit des Dokuments durchblicken, das der algerische Asylbewerber dem Gericht zuletzt vorgelegt hatte: „Man fragt sich schon, warum da keine Unterschrift darauf ist, wo doch der Angeklagte die Schule besucht und lesen und schreiben gelernt hat.“
Bild: Yousef S. und sein Verteidiger Gerd Meister. Bildrechte: NRW.direkt